Im Rahmen des diesjährigen Motorradtests wurden die Assistenzsysteme einer Ducati Multistrada, einer Honda Africa Twin sowie einer Kawasaki Ninja auf der TCS Teststrecke in Hinwil getestet und deren Sicherheitspotenzial abgeschätzt. Der Fokus lag dabei auf den Systemen ABS und Kurven-ABS, der Traktions- und Wheeliekontrolle sowie dem Totwinkelassistenten und des Komfortsystems ACC, welches dieses Jahr erstmalig auch für Motorräder zur Verfügung steht. Tabelle 2 zeigt, welche Fahrassistenzsysteme in welchen Testmotorrädern zum Einsatz kommen.
Das ABS ist ein sehr ausgereiftes Fahrerassistenzsystem und arbeitet solide. Für Motorräder mit mehr als 125 Kubikzentimetern Hubraum ist die Antiblockierfunktion der Bremse in der Europäischen Union und in der Schweiz für alle neu zugelassenen Motorräder seit 2017 Pflicht. Die Testbremsungen auf gerader Strecke haben die Testfahrer überzeugt. Die Systeme arbeiten so stark am Optimum, dass selbst ein geübter Fahrer ohne ABS keine kürzeren Bremswege erzielt.
Doch bei Kurvenfahrt ist die Bremsung selbst mit ABS eine knifflige Angelegenheit. Denn unmittelbar mit Einsatz der Verzögerung dreht sich hier das Vorderrad nach innen, was das schnelle Aufrichten des gesamten Motorrades nachsichzieht und die Fahrtrichtung in Richtung Kurvenaussenseite verschiebt – und damit in den Gegenverkehr oder Leitplanke. Um dieses Problem zu lösen, wurden Kurven-ABS Systeme entwickelt, welche die Schräglage des Motorrades in die ABS-Regelung mit einbeziehen.
Das etwas jüngere kurventaugliche ABS, welches erstmals Ende 2013 in der KTM 1190 Adventure vorgestellt wurde, hat bei allen drei Töffs hervorragend funktioniert. Alle drei Motorräder liessen sich aus verschiedenen Kurvengeschwindigkeiten und unter verschiedenen Schräglagen mittels einer Vollbremsung zum Stillstand bringen, ohne dabei die Kurvenlinie zu verlassen. Das System ist vor allem hinsichtlich einer Schreckbremsung ein enormer Sicherheitsgewinn. Doch wenn die Haftung so schlecht ist, dass das Rad schon ohne Bremsung weggerutscht wäre, hilft natürlich auch kein Kurven-ABS mehr – die Physik lässt sich nicht überlisten. Die Systeme sind bei allen drei Motorrädern per Default eingeschaltet.
Das Sicherheitspotential sowohl vom normalen ABS als auch vom kurventauglichen System wird von den TCS Experten und der BFU als sehr hoch eingestuft. Das Kurven-ABS dient als Sicherheitsnetz wenn es in Schräglage zu einer Bremsung kommt. Es sollte aber nicht zu höheren Kurvengeschwindigkeiten animieren!
Wheelie- und Traktionskontrolle
Als Gegenstück zum ABS verhindert die Traktionskontrolle ein Durchdrehen des Hinterrades, wodurch einem ungewollten seitlichen Ausbrechen des Hinterrades vorgebeugt wird. Wenn das Motorrad erstmal quer zur Fahrtrichtung steht und der erschrockene Fahrer das Gas zumacht, gewinnt der Hinterreifen plötzlich wieder an Haftung, wodurch der Fahrer in hohem Bogen vom Motorrad geschleudert wird. Dieser Effekt, der allgemein als „Highsider“ bekannt ist, vermag die Traktionskontrolle zu verhindern. Diese greift
ein, bevor das Hinterrad ausbricht, indem vom System die Leistung gedrosselt wird. Die Traktionskontrolle hat bei allen drei Testfahrzeugen überzeugt. Das System arbeitet unauffällig im Hintergrund und gibt eine gute und vertrauenswürdige Rückmeldung.
Die verschiedenen Einstellstufen der Testmotorräder erlauben ein unterschiedlich hohes Abheben des Vorderrades. Man kann also selber einstellen, ob das Vorderrad abheben soll und wie hoch. Die verschiedenen Einstellmöglichkeiten animieren allerdings dazu, Wheelies durchzuführen, was den Sinn und Zweck des Systems etwas in Frage stellt. Aus der Spielerei mit dem System könnten gefährliche Situationen resultieren, zumal ein abgehobenes Vorderrad ein instabiler Fahrzustand darstellt und sich das Motorrad
nur schwer kontrollieren lässt. Die Systeme sind bei allen Testmotorrädern per Default so eingestellt, dass der Motorradfahrer beim Einschalten des Motorrades nichts einstellen muss, sondern sicher losfahren kann.
Die Experten des TCS und der BFU schätzen vor allem die Traktionskontrolle als sehr sicherheitsrelevant ein. Die Wheelie-Kontrolle funktioniert zwar bei allen Motorrädern gut, dennoch stellt sich der Sinn und Zweck der verschiedenen Einstellstufen des Systems etwas in Frage, da diese zu Wheelies animieren können. Dies dient nicht der Sicherheit sondern ist vielmehr eine riskante Spielerei.
Die Stoppie-Kontrolle ist bei den getesteten Motorräder immer eingeschaltet und arbeitet im Hintergrund. Gerade bei der Multistrada war das Problem vor 15 Jahren sehr ausgeprägt, heute ist ein Abheben des Hinterrades kein Thema mehr. Funktioniert sowohl bei tiefen wie hohen Geschwindigkeiten.
Die Stoppie-Kontrolle bietet ein hohes Sicherheitspotential, da es bei einer Vollbremsung ein Abheben des Hinterrades verhindert.
Bei allen Testfahrzeugen lassen sich die Gasannahme, Motorbremse und Fahrwerkseinstellungen direkt über verschiedene Fahrmodi anpassen:
Der TCS und die BFU schätzen das Sicherheitspotenzial als hoch ein. Da die Leistung sowie die Gasannahme über die verschiedenen Fahrmodi den aktuellen Fahrbedingungen angepasst werden können und ein falsch eingestelltes Fahrwerk neben dem eingeschränkten Fahrspass durchaus auch ein Sicherheitsrisiko bedeuten kann, sind diese Einstellmöglichkeiten nebst der Erhöhung des Komforts sicherlich auch ein Sicherheitsgewinn.
ACC und Totwinkelassistent
Der Abstandsregeltempomat (ACC) und Totwinkelwarner sind Weltneuheiten für Motorräder, welche erstmals in der Ducati Multistrada V4 zum Einsatz kommen. Nebst Ducati hat auch BMW bereits ein Motorrad mit ACC auf dem Markt. Den ACC dient vorwiegend dem Komfort. Der Fahrer kann dabei anhand verschiedener Stufen wählen, welchen Abstand er zum Vordermann halten will und das System sorgt dann dafür, dass dieser Abstand eingehalten wird. Hierfür passt das System die Motorleistung an und bremst das Motorrad bis zu einer maximalen Verzögerung von 0.5g ab. Im Test hat das System überzeugt.
Der TCS und die BFU stufen das Sicherheitspotenzial von ACC und Totwinkelassistent als hoch ein, zumal man auf dem Motorrad über ein eingeschränktes Sichtfeld verfügt und Motorradfahrer tendenziell mit zu wenig Abstand unterwegs sind.