Stil im Verkehr mit Jeroen van Rooijen
Ich wage jetzt mal eine ganz grosse Klappe und sage: Es braucht einen neuen Ehrenkodex im urbanen Verkehr. Ein neues Verständnis der Kräfteverhältnisse, eine neue Kulanz zwischen Langsamund Fussverkehr, Radfahrern und motorisierten Akteuren. Dabei geht es mir nicht um einen Umsturz zu Lasten des einen oder anderen, keine Sorge – der hat ja längst stattgefunden.
Die Autofahrer, für welche die Verkehrsnetze einst grosszügig entworfen und asphaltiert wurden, sind im städtischen Raum ja längst nicht mehr die Platzhirsche, sondern die Underdogs. Das ist einfach so, da hilft auch markiges Gehabe nichts. Sie besetzen mit je zehn Quadratmetern zwar den meisten Platz, aber das gibt ihnen keine Hoheit, im Gegenteil: Sie werden gegängelt, gemolken, gebüsst und am Vorwärtskommen gehindert, wie es nur geht. Auch, wenn sie elektrisch fahren – das ja viel schneller in Mode gekommen ist, als viele Experten glaubten.
Den grössten Vorteil haben in der Stadt bekanntlich die Fussgänger. Sie brauchen pro Kopf gerade mal einen Drittel Quadratmeter Platz und können sich immer und überall in jede Richtung bewegen, bezahlen nicht fürs Stehenbleiben und Absitzen, werden praktisch gar nie für irgendetwas gebüsst und können ihre Wege durch die Stadt praktisch frei erfinden, losgelöst von Vorschriften und Fahrtrichtungen. Sie können sich in beliebiger Zahl versammeln und produzieren dennoch fast nie ein Verkehrschaos.
Die aktuellen Lieblinge der städtischen Verkehrsplaner sind allerdings nicht die Fussgänger, sondern die Velofahrer, für die man in den letzten Jahren viel investiert hat. Sie brauchen je zirka einen Quadratmeter Platz, haben heute fast überall Vortritt, dürfen auch bei Rot rechts abbiegen und meistens auch im Gegenverkehr fahren. Manchmal, wenn die Velofahrer immer noch mehr Raum fordern, bekommt man allerdings das Gefühl, dass diese gar noch nicht gemerkt haben, wie privilegiert sie inzwischen sind.
Die Hierarchie der Verkehrsteilnehmer wurde in den letzten Jahren also quasi auf den Kopf gestellt. Zuoberst die grosse Menge der Fussgänger, die nicht viel Platz und Fürsorge erfordern, dann die Velofahrer, die weiterhin vom Zeitgeist der Nachhaltigkeit profitieren und noch immer Terrain gutmachen, und zuunterst die Autofahrer, die zunehmend immobilisiert sind und deswegen verständlicherweise die Faust im Sack machen. Irgendwo dazwischen sausen noch Trottis und Motorräder herum.
Diese neue Ordnung erfordert nun neue Verhaltensregeln. Diese setzen Empathie und gesunden Menschenverstand voraus, heisst: Der Stärkere schont den Schwächeren. Der mit dem grössten Vorteil bringt Nachsicht für die Benachteiligten auf. Darum sind aggressive Velofahrer, die auf Autodächer hauen, nach Türen treten und Stinkefinger zeigen total von gestern, eigentlich fast schon fossile Wesen, die ins Museum gehören.
Das neue «Cool» ist es, wenn Fussgänger heranbrausende Velos lässig vorbeiwinken – und wenn Velofahrer nicht rüpelhaft und an der Grenze zur Legalität fahren, sondern grosszügig, kulant, gelassen und friedfertig. Ein solcher Verkehrsteilnehmer strahlt Souveränität aus, auch wenn er im Konfliktfall (mit dem Auto) unterlegen wäre. Doch dazu sollte es gar nicht mehr kommen, jetzt, wo die Karossen praktisch still stehende Verkehrshindernisse geworden sind.
Der Autofahrer wiederum muss bedenken, dass sich sein bevorzugtes Verkehrsmittel immer weniger zur Fortbewegung eignet, wenn man eine volle Agenda hat und pünktlich sein will. Ideal wäre es darum, wenn nur noch jene Auto fahren, die keine Termine haben, Senioren etwa. Das verlangsamt alles noch einmal deutlich. Entschleunigung liegt ja voll im Trend. Cool down. Relax. Chill out. Omm.