Unterwegs mit Markus Somm
Wenn er über Pässe fuhr, schrien die Passagiere: «Hermi, hör auf!»
Mein Grossvater hat vor hundert Jahren in Waldkirch bei St. Gallen ein Transportgeschäft gegründet. Als gelernter Schmied war ihm offenbar schon während des Ersten Weltkrieges aufgefallen, dass es vorbei ging mit den Pferden und den Kutschen, seinem Heimmarkt sozusagen. Wer brauchte noch Schmiede, wenn es einmal kaum mehr Pferde gab? Hermann Somm, der Prophet von Waldkirch. Aus diesem Grund kaufte er 1922 seinen ersten Lastwagen, wie er das finanziell anstellte, ist mir unklar, doch der Schritt war wagemutig auf jeden Fall. Bald expandierte das Geschäft, was sich jeweils daran abmessen liess, wie viele Lastwagen er im Stall hatte, bald kamen Cars dazu. Nichts liebte er vielleicht mehr, als einen Car zu steuern – zumal mein Grossvater ein geselliger Mensch war, der gerne mit Menschen zu tun hatte. Wenn er sie mit dem Car ausfuhr, pflegte er am Steuer zu singen, unterhielt sie mit Geschichten und machte
sich einen Spass daraus, die weiblichen Gäste zu erschrecken, indem er auf Passstrassen den Car so um die Kurven zirkelte, dass stets ein Teil des Cars in der Luft hing: Die Frauen schrien, die Männer schützten ihre Frauen: «Hermi, hör auf!» tönte es von den hinteren Sitzen,
und mein Grossvater gab Gas.
Mein Grossvater war ein geborener Unternehmer. Stets auf der Hut, wo sich eine Marktnische ergab, wo ein Auftrag, wo ein Bedürfnis. Er roch es. Um zu wissen, wer seine Dienste benötigte, begab er sich jeden Samstag an die St. Galler Börse, wo er die Transaktionen
beobachtete und die Händler aushorchte. Wenn Bauer Huber 20 Schweine verkaufte, dann wandte er sich sofort an den Käufer Meier und bot ihm die Fahrt nach Basel an, wo das Schlachthaus stand. Setzte ein anderer Weizen ab, stellte er sich als Spezialist für Weizentransporte vor.
Während Hermann Conférencier, Unternehmer und Schlaumeier war, kümmerte sich meine Grossmutter um die Buchhaltung, sie war CFO und Personalchefin, was auch hiess, dass sie den Chauffeuren, die stets mit der Familie assen, Tischmanieren beibrachte: Hände
waschen, Tischgebet, kein Fluchen! Wer dagegen verstiess, wurde von Marie Somm zurechtgewiesen – mit jener unwiderstehlichen Form von Autorität, die nur Frauen meistern: Liebe und Strenge. Rauchen war übrigens nur nach dem Essen gestattet. Draussen vor der Tür.
Anfang der 1960er Jahre übergab mein Grossvater das Geschäft seinem ältesten Sohn, der sich der Aufgabe nicht gewachsen zeigte. Irgendwann fuhren die Lastwagen und Cars der Hermann Somm AG, Waldkirch nirgendwo mehr hin.
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