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30.05.2023

Der stille Musterknabe

Während noch alle Welt in Sachen Batteriefertigung nach China schaut und die USA mit grosszügigen Subventionen ­Investoren in diesem Bereich anlockt, verfolgt auch Kanada ­nahezu unbeobachtet grosse Ziele.
30. Mai 2023

Das rohstoffreiche Land will ein wichtiger Player in der Batterieproduktion werden.

«Die kanadische Regierung tut viel, um die Luftfahrt sauberer zu machen. Firmen in diesem Bereich werden sehr ­unterstützt», sagt André Borschberg. Der Ingenieur, der als Mitentwickler und auch als Pilot des Langstreckenflug­zeuges Solar Impulse bekannt wurde, weiss es aus erster Hand. Als Firmenchef von H55, eine Ausgründung des ­Solarflugzeugprojekts, ist er in drei Projekte in dem nordamerikanischen Land involviert. Pratt & Whitney Canada ­arbeitet mit dem Sittener Hersteller von elektrischen Flugzeugmotoren und ­Batteriepacks an der Entwick­lung eines hybrid-elektrischen Regionalflugzeuges. Weiter liefert H55 Batterietechnologie für die Elektrifizierung der Flotte der weltgrössten Wasserfluggesellschaft Harbour Air in Vancouver und für einen Umrüstsatz. Den plant der Anbieter von Flugsimulationstechnik, CAE Inc., mit Flugzeughersteller Piper für das verbreitete Modell Piper Archer. «Wir hatten auf Ebene der Bundes­regierung wie auch in der Provinz Quebec stets mit guten, motivierten Leuten zu tun. In Kanada wird in kürzester Zeit alles möglich gemacht», fasst André Borschberg seine Erfahrungen zusammen.

Von Abbau bis Recycling

Canada
Gefragte Rohstoffe Kobalt, Graphit und Nickel sind in Kanada reichlich vorhanden.

Das sind nur ein paar Beispiele, die zeigen, dass sich dort Politik und Wirt­schaft sehr engagieren, um von ihrer Seite die Vorgabe für 2050 zu erfüllen: Ab dann, so das Klimaziel des interna­tio­nalen Luftfahrtverbandes IATA, soll der weltweite Luftverkehr CO2-neutral sein.
Das flächenmässig zweitgrösste Land der Erde, in dem das Flugzeug unentbehrliches Verkehrsmittel ist, bemüht sich nicht nur stark um eine umweltfreundlichere Luftfahrt, es will auch zu einem wichtigen Akteur in Sachen Batterieproduktion werden. Die Regierung sieht im Rahmen ihrer «Mines to Mobility»-Strategie eine Lieferkette vor, die vom Abbau der dafür nötigen Mineralien über Batteriezell­fabriken und der Produktion von E-­Autos bis zum Recycling reicht. Die Voraussetzungen dafür sind sehr gut. Überwiegend «grüner» Strom ist günstig zu haben, und das rohstoffreiche Kanada besitzt so ziemlich alle Mineralien, die für die Batterieherstellung ­nötig sind. Kobalt, Nickel und Graphit werden in grossen Mengen gefördert, während Lithium in den letzten Jahrzehnten aus Rentabilitätsgründen nur wenig abgebaut wurde. Doch besitzt die tektonische Platte, auf der sich das Land befindet, reiche Lithiumreserven, vor allem im Bereich der Provinz Quebec. Die lange Bergbautradition, hoch qualifizierte Fachkräfte und eine inno­vative KFZ-Industrie waren weitere ­ausschlaggebende Punkte, die Kanada 2022 im Länderranking für Batterie­lieferketten (Lithium-Ionen-Batterien) des Wirtschaftsdienstes Bloomberg NEF auf den zweiten Platz katapultierten. An erster Stelle steht China.

Nachhaltiger als die USA

Womit die Kanadier weiter punkten können, ist der nachhaltige Abbau der begehrten Rohstoffe. Ein Beispiel dafür ist das Minenunternehmen Vale Canada, das unter anderem in Neufundland ­Ni­ckel abbaut. Pro Tonne des in der dortigen Long-Harbour-Raffinerie gewon­nenen, hochwertigen Metalls werden 4,4 Tonnen Kohlenstoff freigesetzt. Das sei nur ein Drittel dessen, was als Durchschnitt in der Industrie gelte, so die Bergwerksgesellschaft. Punkto Nachhaltigkeit schneidet Kanada laut Bloomberg NEF besser ab als die USA. Diese sind jedoch durch das Getöse um das 750 Milliarden US-Dollar schwere Investitionsprogramm Inflation Reduction Act (IRA) in aller Munde. Damit will die Regierung Biden die US-Indu­strie klimafest und zukunftssicher ­machen. So sieht der IRA unter anderem Kaufprämien für Elektroautos vor, wenn ein bestimmter Anteil der ver­bauten Rohstoffe aus den USA kommt. Oder aus Ländern, mit denen das Frei­handels­abkommen besteht, also Mexiko und Kanada. Das facht den Wettlauf der Autohersteller aus Europa und Asien um nordamerikanische Fertigungsstandorte von Batteriezellen und -packs weiter an, der vorher schon bestand, um unabhängiger von China zu werden. Aufgrund grosszügiger Subventionen, aber auch wegen des gigantischen nachgelagerten Markts für Elektromobilität und der bereits bestehenden Produk­tionskapazitäten werden Hersteller wie Toyota oder Ford in den USA Milliarden in Batteriefertigung investieren.

VW und Stellantis wählen Kanada

Aufhorchen liess im März die Meldung, dass VW die erste seiner Zellfabriken ausserhalb Europas in der Provinz Ontario eröffnen wird. Kanada biete hohe Nachhaltigkeitsstandards und ideale wirtschaftliche Bedingungen, wurde Konzernchef Oliver Blume zitiert. Bereits 2022 gab der Konzern an, sich an kanadischen Minen beteiligen zu wollen. Auch Mercedes-Benz will stärker mit Kanada zusammenarbeiten, während der multinationale Autoriese Stellantis (Chrysler, Dodge, Citroën, Peu­geot usw.) zusammen mit dem südkoreanischen Mischkonzern LG bereits 2025 die Eröffnung einer Batteriefabrik in der Provinz Ontario plant. Schon nächstes Jahr will André Borschberg im Grossraum Montreal H55-Batteriepacks produzieren. Seine Überzeugung: «Um diese gewaltige Umstellung auf Elektromobilität zu schaffen, sind die Bemühungen vieler Länder nötig. Kanada wird dabei sicher eine grosse Rolle spielen.»

Text: Juliane Lutz
Fotos: Nathan Eddy

Starker zweiter Platz im weltweiten BNEF-Ranking 2022 für Batterielieferketten*

1. China
2. Kanada
3. USA
4. Finnland
5. Norwegen
6. Deutschland
7. Südkorea
8. Schweden
9. Japan
10. Australien

* Lithium-Ionen-Batterien.
Quelle: Bloomberg NEF (BNEF)

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