Magdalene Chesoli fehlt das zweite Bein von Geburt an. Nur mühsam konnte sich die Kenianerin an Krücken fortbewegen, die ständig die Kleidung kaputt machten. Aufgrund der Einschränkung blieb für die gut ausgebildete 38-Jährige nur ein Job im Callcenter. Heute trägt sie eine Unterschenkelprothese von Circleg, ist selbstbewusst und machte neulich sogar in einem Tanzvideo mit, um zu zeigen, dass mit einem künstlichen Bein so ziemlich alles möglich ist.
Fünfzehn Frauen und Männer arbeiten für das Zürcher Start-up Circleg in der Schweiz und in Kenia. Ihr Produkt ist eine leichte Beinprothese aus Polypropylen und Kunstfaser, die sich rasch individuell anpassen lässt. Ihre Teile – Kniegelenk, Rohrskelett, Cover und Fuss – sind alle wiederverwendbar. Und: Verglichen mit anderen Prothesen, ist sie günstig. «Sie kostet in Kenia umgerechnet zwischen 500 und 600 Franken. Andere Hilfsmittel auf gleichem Qualitätslevel liegen zwischen 1000 und 1500 Franken», sagt Simon Oschwald. Auf ihn und Fabian Engel geht die Idee, eine vielseitig einsetzbare, ästhetische und erschwingliche Prothese für die unteren Extremitäten zu schaffen, zurück. Der Bedarf ist enorm: Laut WHO-Schätzungen leben derzeit 65 Millionen Menschen, denen ein Unterschenkel oder gar beide amputiert wurden.
Der St. Galler Engel und der Churer Oschwald lernten sich im Designstudium an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) kennen und wollten für die Bachelor-Abschlussarbeit etwas Sinnvolles entwerfen. Nachhaltigkeit war ihnen wichtig, ebenso der Kreislaufwirtschaft-Gedanke. Das Produkt sollte aus recycliertem Plastik bestehen und die Teile immer wieder nutzbar sein, um Abfall zu vermeiden. Ausserdem sollte sie gut aussehen, mehr schmückendes Accessoire als unattraktives orthopädisches Hilfsmittel sein. Als sie den Prototyp 2018 vorlegten, war die Resonanz enorm, und Auszeichnungen folgten, vom James Dyson Award bis zum Young Researcher Award. «Die Preise waren für uns ein Ansporn, und wir gaben uns ein halbes Jahr, um Unterstützer und Stiftungen für die Idee zu gewinnen», sagt Fabian Engel. Rasch wurden sie ein Spin-off der ZHdK und von der Ikea-Stiftung Schweiz sowie der Gebert-Rüf-Stiftung unterstützt. Das ermöglichte ihnen, Leute mit den nötigen Kompetenzen an Bord zu holen. Zusammen mit Biomechanikingenieurin Laura Magni, Maschinenbauingenieur Daniel Vafi und Ökonomin Nicole Colmenares Pulido gründeten sie 2022 Circleg. Weiter erlaubte ihnen das Geld der Stiftungen, ein Unternehmen ganz im Einklang mit ihren Werten aufzubauen, ohne Einfluss von aussen. Mittlerweile sind sie für Investoren offen.
Seit Oktober 2023 haben sie 500 Prothesen hergestellt. Mittlerweile verhilft der Beinersatz fünfzig Kenianerinnen und Kenianern zu mehr Mobilität und Unabhängigkeit. Die Hilfsmittel werden in Zürich entwickelt, in Europa und Asien hergestellt und in Kenia zusammengebaut. Kunden von Circleg sind Spitäler in dem ostafrikanischen Land, die Orthopädietechniker beschäftigen. «Sehr oft sind Verkehrsunfälle der Grund für Amputationen. Motorradtaxis sind sehr verbreitet, und wenn etwas passiert, werden meist die Beine verletzt», sagt Engel. Häufig fehle es an finanziellen Mitteln für eine längere Behandlung, um das Bein zu retten, oder am Know-how der Ärzte, sodass recht schnell amputiert werde. In der Regel sinke die Lebensqualität Betroffener drastisch, sie verlieren ihre Jobs, werden aus der Gesellschaft ausgeschlossen und in ländlichen Gebieten nicht selten aufgrund des fehlenden Beines als verflucht angesehen.
Dass Circleg gerade in Kenia begann, Prothesen zu vertreiben, war Zufall. «Wir kamen bei der Recherche zu unserem Prototypen auch mit einem von Schweizern geführten Plastikrecyclingunternehmen in Kenia in Kontakt. Bei einem Besuch vor Ort erkannten wir, dass der Bedarf an günstigen, einfach zu handhabenden Prothesen aus Kunststoff enorm ist», sagt Simon Oschwald. Aber sie entschieden sich auch für das Land, weil die Menschen dort meist kaum Mittel für das Nötigste haben. Kenia ist eine gefestigte Demokratie und zählt zu den führenden Staaten in Afrika, doch der Reichtum ist höchst ungleich verteilt. Achtzig Prozent der Bevölkerung haben keine Krankenversicherung. In ländlichen Regionen ist die Gesundheitsversorgung sehr schlecht.
Auf die Frage, ob ihnen andere Hersteller von Prothesen schon Übernahmeangebote gemacht oder aufgrund der tieferen Preise befürchten, dass Circleg ihre Geschäftsmodelle kaputt macht, verneinen die Gründer einstimmig. Es sei für die meisten Hersteller finanziell uninteressant
in diesen Markt einzusteigen, da nicht nur Produkte und Services nötig seien, sondern ein ganzes System müsse neu gedacht werden. Die Versorgung von Amputierten ist in Kenia bisher eher ungenügend.
Als Social Enterprise stellt Circleg nicht nur Prothesen her. Die fünf Gründerinnen und Gründer wollen den Zugang zu den wichtigen Hilfsmitteln für alle erschwinglich machen. «Wir bieten Freedom-of-Mobility-Pakete an, die wir beispielsweise an Spenderinnen und Spender in der Schweiz verkaufen», erläutert Fabian Engel. Diese stellen dann für drei Jahre die prothetische Versorgung von einer beinamputierten Person sicher oder kommen für Physiotherapie und allfälligen Reparaturen der Prothesen auf. An Gebenden herrsche kein Mangel. Jedoch gelangten die Orthopädietechniker in Kenia von den Kapazitäten her an ihre Grenzen, aber auch, was ihre Ausbildung angeht. Da sei man gerade mit einer deutschen NGO dabei, Ausbildungsprogramme aufzusetzen. Ein weiteres wichtiges Anliegen ist dem Circleg-Team, Menschen, die ein Bein verloren haben, zu informieren, wie und wo es Hilfe gibt. «Ausserdem wollen wir gegen die Stigmatisierung von Beinamputierten ankämpfen, indem wir Kampagnen fahren, über Social Media oder zum Beispiel über Tanzprojekte vor Ort.» Dann zeigen Leute wie Magdalene, die heute übrigens als Community-Managerin für Circleg arbeitet und gern Shorts oder Kleider trägt, dass das Leben auch mit einem Bein gut ist.
Text: Juliane Lutz
Fotos: Emanuel Freudiger
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