«Keine andere italienische Region ist reicher an feinen Spezialitäten aus Nudelteig», befand Kochbuchautorin Alice Vollenweider über die Emilia-Romagna. Eine besondere Spezialität gibt es in der traditionsreichen Universitätsstadt Ferrara. Die Cappellacci di zucca, eine Art Riesen-Tortelloni mit Kürbisfüllung sind ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der Nudeln eine gern demonstrativ teuer überwürzte Süssspeise der Oberschicht waren. Maria Cristina Borgazzi, die Betreiberin des nach ihrer Mutter benannten Lokals «da Noemi», nimmt sich ausnahmsweise die Zeit, zu demonstrieren, wie die Spezialität hergestellt wird. Als Erstes nimmt sie ein fast meterlanges, griffloses Wallholz, den Mattarello, aus einer Stofftasche mit zwei weiteren Holzstäben und scherzt, das sei ihr Erbe. Nach einer Prüfung, ob sich das alte Holz nicht verzogen hat, dient ihr der Stab zum Ausbreiten des Teigs und als Lineal zum Schneiden von kleinen Quadraten. Auf die Teigplättchen setzt sie eine Füllung aus gebackenem Kürbis – es muss der länglich-violinenförmige sein – mit Muskatnuss. Dann klappt sie jede Portion zu einem Dreieck zusammen und formt in Sekundenschnelle Cappellacci daraus. Kurz darauf geniessen wir die Nudeln auf der anderen Seite der Gasse im Restaurant. Wie wichtig den Ferraresern Kürbis-Cappellacci sind, zeigt sich am nächsten Morgen bei einer Fahrradtour durch die Stadt, wo die Teigtaschen vielerorts angeboten werden.
Hundert Kilometer südlich, in den Hügeln von Bertinoro im Hinterland des Adria-Klassikers Cesenatico zeigen der frühere Koch Andrea Ciani und seine Frau Elisabetta den Gästen ihres Bed and Breakfast «Tenuta Diavoletto», wie man frische Pasta macht. Ganz ohne Ei, nur mit einer Mischung aus feinem Mehl, Wasser, Olivenöl und Salz, stellt Andrea einen geschmeidigen Teig für Strozzapreti her. Die kompakten Nudeln entstehen, indem schmale Teigstreifen zwischen den Händen zu kompakten Würstchen gerieben und auf Daumenlänge abgezupft werden. Über die Entstehung des Namens – «Würg den Priester!» – gibt es viele Geschichten. Beliebt waren Priester in der Romagna früher eher nicht, zumal sie auch als Pachteintreiber des Klerus unterwegs waren, die bekocht werden wollten. Andreas zweiter Nudelteig, der neben Eiern und Mehl auch Hartweizengriess enthält, gerät trockener und zäher als die erste Pasta. Mit Geduld und viel Kraft im Handballen lässt Andrea aber doch noch eine brauchbare Teigplatte entstehen. Auf eine Längshälfte des Teigs platziert er in regelmässigen Abständen die Füllung aus gebratenem Mangold mit Ricotta, Parmesan und Ei. Dann klappt er den Teig der Länge nach um und drückt mit den Fingern die Luft aus den Zwischenräumen, die er fest aufeinander presst. Am Ende schneidet er mit einem geriffelten Teigrädchen quadratische Tortelli aus dem Teig, kocht sie kurz ab und schwenkt sie dann, wie man das in der Romagna gerne macht, mit Butter und Salbeiblättern in einer heissen Pfanne.
Auch bei Carla Brigliadori fängt alles mit einem frischen Teig an, der hierzulande nicht ausgewallt, sondern gezogen wird, wie sie den Teilnehmern ihrer Kurse in der Casa Artusi in der nahen Kleinstadt Forlimpopoli erklärt. Pellegrino Artusi war ein wohlhabender Kaufmann mit einem Faible für italienische Hausmannskost, die er in einem selbst verlegten Kochbuch verewigte, in jeder neuen Auflage ergänzt um die Variationen der Leserinnen, für die der «Artusi» zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Standardanleitung für die Küche eworden war. Aus dem seiner Heimatstadt vermachten Nachlass ist heute ein bedeutendes kulinarisches Zentrum mit Kochschule, Restaurant und Bibliothek geworden, das sich für die Erhaltung und behutsame Weiterentwicklung des von ihm dokumentierten Rezeptkanons einsetzt. Carla ist dabei auch für Pastagerichte zuständig, denen Artusi schon eine wichtige Rolle zugestand, als sie noch längst nicht zum Alltagsgericht der Italiener geworden waren.
Damit könnte man sie auch eine Sfoglina nennen, eine «Teigfrau», wie man hier die meist weiblichen Experten nennt, die professionell aus einem flach gezogenen Teig (Sfoglia) Nudelsorten aller Art hervorzaubern. Carlas Trick beim anstrengenden Ziehen der Pasta: Sie lässt den Fladen vor sich zur Hälfte von der Arbeitsplatte herunterhängen. So kann sie den Teig Stück für Stück bearbeiten, ohne sich vorbeugen zu müssen. Unter den vielen Formen, die Carla auf die Schnelle aus dem flachen Teig schneidet, faszinieren uns – neben den Tortellini – besonders die Garganelli. Diese beinahe fingerlangen, dicken Röhrennudeln sehen aus wie hohle, gerade Mini-Croissants. Für jede Nudel wird ein Teigquadrat diagonal auf ein geriffeltes Holzbrettchen gelegt und um ein Holzstäbchen gerollt. Typisch Pasta eben: einfach raffiniert.
Text und Fotos: Christoph Weymann
Reise-Check
Wohnen:
Piazza Nova Guest House, Ferrara: ruhige, gemütliche Selbstversorger-Appartements.
piazzanova.it, agriturismo.it
Essen und Trinken:
Trattoria da Noemi, Ferrara: traditionelle Küche auf hohem Niveau mitten in der Altstadt.
Ristorante Luis, Collinello (Bertinoro): u. a. frische Pasta, herrliche Aussicht.
Einkaufen:
Mercato Coperto (Markthalle), Ravenna: frische Pasta und mehr.
Fattoria Paradiso: Weingut in herrlicher Lage bei Bertinoro, teils seltene Rebsorten.
Nardini Loretta: hochwertiges Bioolivenöl in Bertinoro. Auch Brisighella südwestlich von Faenza ist für Hersteller von Öl bekannt.
Sale dolce: Das süsse Salz aus Cervia gilt als besonders rein.
Tipp:
Bei der An- oder Rückreise lohnt
ein Stopp in der westlichen Emilia. Die Apenninen südwestlich von Reggio nell’Emilia bieten Käsereien mit Berg-Parmesan und schöne Wanderungen (Tafelberg Pietra di Bismantova).
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