Während die Technologie in unseren Breitengraden erst langsam aufkeimt, lädt ein Rentner bereits seit einem Jahr bidirektional. Zu Gast bei einem Pionier der etwas anderen Art.
Als Reinhard Ketterer vor drei Jahren bei der Stadt Wil für einen Förderbeitrag vorspricht, muss er dem Energiebeauftragten zuerst erklären, was das bidirektionale Laden ist und wie es funktioniert. «Er kannte es nicht, war aber sehr offen und interessiert. Am Schluss wurde mein Antrag bewilligt, ich erhielt 2000 Franken Subvention für das Auto und konnte zudem noch auf etwas Neues aufmerksam machen.» Triumphierendes Schmunzeln, gefolgt von einem Stück Kuchen.
Auf dem Esstisch seines imposanten, renovierten Bauernhauses oberhalb von Zuzwil (SG) verteilen sich Zeitungsartikel, E-Mail-Ausdrucke, Fotos, fein säuberlich mit Bleistift geschriebene Zahlentabellen – und Frau Ketterers Rüeblitorte. Der pensionierte Ingenieur, Wanduhrensammler und Hobbyimker ist bestens informiert und weiss, wovon er spricht. Mit schnellen Worten in süddeutschem Akzent schildert er, wie es dazu kam, dass er im stolzen Alter von 79 Jahren in eine Technologie investiert, welche eher die Generationen nach ihm beschäftigen wird. Dabei sei er nicht einfach so darauf gestossen, sondern kam über einen jahrelangen Prozess zu dieser für ihn passenden Lösung.
Schon immer ein Faible für erneuerbare Energien entscheidet er sich im Jahr 2008 für eine Erdsonden-Wärmepumpe. Mit der Installation der Solaranlage auf dem Dach folgt der nächste Schritt, sein Haus ein Stück weit mit eigenem, sauberem Strom versorgen zu können. In den kommenden Jahren protokolliert er seine Stromproduktion sowie den Verbrauch akribisch und muss feststellen, dass er im Sommer zu viel und im Winter zu wenig Strom für den Eigenbedarf produziert. Lediglich ein Viertel des erzeugten Stroms kann er durchschnittlich pro Jahr selber nutzen, den Rest speist er mit einer geringen Vergütung ins Netz. Das ist ihm klar zu wenig, und er beginnt mit der Recherche nach einer besseren Lösung.
Schnell liebäugelt Reinhard Ketterer mit einem stationären Speicher, also einer Batterie, die meist im Keller oder in der Garage fest installiert ist. Diese sollte jedoch nicht zu gross sein, da die Fotovoltaik (FV) auf seinem Dach im Winter nur zehn bis dreissig Kilowattstunden am Tag produziert, aber auch nicht zu klein, um die täglich achtzig bis 150 Kilowattstunden im Sommer immerhin einigermassen aufzufangen. «Infrage kam ein Speicher mit einer Kapazität von 42 Kilowattstunden. Jedoch hat mich der hohe Preis von 48 000 Franken abgeschreckt. Eine sinnvolle Wirtschaftlichkeit war bei Weitem nicht gegeben», sagt er. Durch einen Artikel im «Touring» – Ketterer ist seit 35 Jahren TCS-Mitglied – erfährt er Ende 2019 von der Möglichkeit, dass Elektroautos Energie aus ihrem Akku auch wieder zurückgeben können: das Auto als Stromspeicher, eine mobile Powerbank! «Da war mir klar: Das ist die Lösung meines Speicherproblems», ist er sich, nachdem er sich vom TCS über das bidirektionale Laden aufklären und ausführlich beraten lässt, sicher.
Nach einem Jahr Projekt- und Offertenstudium wagt der gebürtige Schwarzwälder schliesslich den Schritt. Er investiert in einen Nissan Leaf und in die Ladestation «two-way-10» der Firma EVTEC. Zudem nutzt er die Software von Sun2wheel für das intelligente Energiemanagement, womit er auch die Ladestation und die Batterie nach seinem Gusto per App verwalten kann. Eine grosse Auswahl hatte er jedoch nicht. Gerade mal eine Handvoll Fahrzeuge stand damals zur Verfügung – woran sich auch bis heute nichts geändert hat. Und davon hat nur eines, der Nissan Leaf, die Bedingungen erfüllt. «Nur der Leaf mit seiner 62-Kilowattstunden-Batterie verfügt über eine genügend grosse Kapazität», erklärt Ketterer seine Entscheidung. Auch bei der Ladestation sei die Wahl leicht gewesen: «Einzig EVTEC und Sun2wheel hatten zu diesem Zeitpunkt eine passende Station inklusive intelligenter App im Angebot.»
Im März 2021 nimmt sein kleines, privates Speicherkraftwerk, das ihn insgesamt rund 77 000 Franken gekostet hat, den Betrieb auf. Dabei entfielen 22 000 Franken auf die FV-Anlage, inklusive Förderbeiträge und Steuererleichterung. Die Kosten für die Ladestation beliefen sich auf 18 000 Franken, und für das neue Auto bezahlte er 39 000 Franken – abzüglich der 2000 Franken Subvention, die er durch seine Aufklärungsarbeit beim Energiebeauftragten erreicht hat. Klar: Nicht jeder kann sich so eine Investition leisten. Aber immerhin nutzt Reinhard Ketterer seine finanziellen Möglichkeiten, um einer neuen, womöglich zukunftsweisenden Technologie eine Chance zu geben. Ein Pionier eben.
Mittlerweile lädt er fast zwei Jahre bidirektional und kann ein aussagekräftiges, erfreuliches Fazit ziehen. Er kramt in einer Mappe und präsentiert eine selbsterstellte, kleine Studie. Da ist es wieder, das triumphierende, sympathische Schmunzeln. «Dank des mobilen Speichers kann ich doppelt so viel eigenen Strom nutzen als zuvor und den Autarkiegrad von 25 auf 54 Prozent erhöhen.» Die Solaranlage generiere im Jahr plus/minus 22 000 Kilowattstunden, wovon er jetzt über die Hälfte selber nutzt und auch nur noch halb so viel ins Netz speisen muss. Viel mehr sei nicht möglich, da die Wärmepumpe – der mit Abstand grösste Stromfresser im Haus – im Winter mehr Energie braucht, als die FV-Anlage imstande ist, zu produzieren. «Eine Liegenschaft mit Fotovoltaikanlage und mobilem Speicher, aber ohne Wärmepumpe könnte einen Autarkiegrad von neunzig Prozent und mehr erreichen», schätzt er.
Und das Auto? Fährt er überhaupt damit? Tatsächlich legt er mit dem Nissan Leaf nur gut 5000 Kilometer im Jahr zurück. Er braucht ihn also hauptsächlich zur Stromspeicherung in der Garage, weshalb die Sun2wheel-Software den Akku auch jeweils bis auf nur noch zehn Prozent entladen darf. Für dringende oder längere Fahrten hat er für seine Frau und sich zusätzlich einen BMW-Plug-in-Hybrid angeschafft. «Mit dem BMW machen wir im Jahr gut 11 000 Kilometer, davon aber immerhin knapp die Hälfte elektrisch», sagt er fast schon entschuldigend.
Nebst dem wirtschaftlichen Nutzen – Reinhard Ketterer rechnet mit sechs bis sieben Jahren, bis er die Investitionen amortisiert hat – spielt auch das ökologische Bewusstsein bei seinen Entscheidungen eine Rolle. Obwohl er schon einen beträchtlichen Beitrag leistet, lehnte er sich nicht etwa entspannt zurück, als das Schweizer Volk im letzten Jahr zum Stromsparen aufgerufen wurde. «Ich konnte einer drohenden Strommangellage zwar etwas gelassener entgegentreten als andere. Aber es animierte mich sogleich, meinen Verbrauch nochmals zu optimieren, zum Beispiel durch den Einsatz von LED-Lampen oder durch die Senkung der Raumtemperatur um ein bis zwei Grad.»
Sogar die prachtvolle Weihnachtsbeleuchtung, die jeden Winter Schaulustige und Sternsinger aus der ganzen Region zu einem kostenlosen Glühwein anzieht, habe er reduziert. Aus Solidarität, denn «die Beleuchtung braucht gerade einmal so viel Strom, wie wenn meine Frau einen Kuchen bäckt», sagt er und erwähnt die Tafel vor seinem Haus, welche potenziell missgünstige Passanten darauf hinweist, dass die Energie für die Beleuchtung vom eigenen Dach stammt. Dass sie einen Zwischenhalt in der Batterie seines Autos gemacht hat, wird nicht erwähnt. Das ist für die meisten noch zu früh. Noch.
E-Autos als clevere Energiespeicher
E-Autos, die bidirektionales Laden ermöglichen, können als Zwischenspeicher zu einem wichtigen Faktor der Stromversorgung werden.
In Zukunft rüsten die Hersteller immer mehr Autos für diese Technologie aus.
Tagsüber wird überschüssige Solarenergie im Akku des Autos gespeichert.
In der Nacht versorgt das Auto bis zu einem Mindestladestand das Haus mit Strom.
Berechnungen zeigen das Potenzial von bidirektionalem Laden für die Schweiz im Winter.
Der Automobilingenieur Elia Limarzo forschte zum Einsatz von gesteuertem Laden und V2G als Beitrag zur Versorgungssicherheit der Schweiz. Die Ergebnisse der Studie zeigen die Potenziale für verschiedene Anteile von bidirektionalen Fahrzeugen in der Elektroautoflotte. Bei zwanzig Prozent bidirektionalen Fahrzeugen im Jahr 2025 können Nachfragespitzen am Abend eines Wintertags um etwa fünf Prozent und im 2030 um rund elf Prozent reduziert werden. Das bedeutet schlussendlich, dass fünf respektive elf Prozent weniger Leistung zur Verfügung stehen muss, welche sonst durch das Hochfahren von Kraftwerken oder durch Importe bereitgestellt werden müsste.
Text: Dominic Graf
Fotos: Emanuel Freudiger
Glossar
V2H
Steht für Vehicle-to-Home. Die gespeicherte Energie des E-Autos wird dabei ins Haus gespiesen und kann den Haushalt mit Solarstrom versorgen, wenn die Sonne nicht scheint.
V2G
Steht für Vehicle-to-Grid. Damit sind bidirektional ladefähige E-Autos gemeint, die Strom als Teil eines intelligenten Energiesystems ins öffentliche Netz einspeisen – und es stabilisieren können.
V2X
Steht für Vehicle-to-Everything. Es ist ein Sammelbegriff für alle möglichen Anwendungen des bidirektionalen Ladens.
CHAdeMO vs. CCS
Noch sind die meisten bidirektional ladenden Autos mit dem japanischen Standardstecker für Gleichstrom CHAdeMO (Charge de Move) versehen. Für den in Europa üblichen CCS-Stecker (Combined Charging System) gibt es erst ein Auto, den Honda-e.
Solarstromproduktion 2021
2842 Gigawattstunden decken 4,89 Prozent des Gesamtstromverbrauchs der Schweiz von 58 113 Gigawattstunden. Mit 600 Millionen Franken will der Bund 2023 die Solarenergieproduktion (FV/Wärme) fördern..
Verkaufte Fotovoltaikmodule 2021
704,9 Megawatt (+43 Prozent zu 2020).
E-Autos, die bidirektional laden können (Stand 2022):
Nissan Leaf
Nissan e-NV200 (Lieferwagen)
Honda e
Mitsubishi i-MiEV Outlander
Mitsubishi Eclipse Cross
Nahezu die Hälfte nicht konform
Im Laufe von 2024 prüfte der TCS Fussgängerstreifen in der Nähe von Schweizer Bahnhöfen.
Gold für Gelb
Jeden Herbst wetteifern Pannenhelferinnen und Pannenhelfer aus allen Winden Europas um den Titel «Road Patrol Team of the Year».
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