An diesem Ort habe zuvor noch nie ein Mensch gestanden, sagt Charly Simmen. «Das ist schon sehr faszinierend», fügt der Zuständige für Sicherheit nach einer längeren Pause hinzu. Wir befinden uns einige Hundert Meter tief im Gotthardmassiv. Der schlammige Boden ist aufgeweicht, da immer wieder Wasser durch den Berg läuft und von den Wänden tropft. Im Tunnel ist die Temperatur angenehm, nicht so wie draussen vor dem Nordportal an diesem nebligen Tag im Februar. Etwa siebzig Meter entfernt, fahren täglich rund 17 000 Fahrzeuge in Richtung Süden und Norden durch den Gotthardstrassentunnel. Als Erstes fällt der beissende Geruch von Ammoniak auf. Dieser ist auch einige Zeit nach der Sprengung auf der Tunnelbaustelle noch deutlich zu riechen, obschon grosse Schläuche an der Decke frische Luft von draussen in den Stollen blasen. Der Lärm von vielen Maschinen ist ohrenbetäubend. Im Gotthardmassiv laufen gerade die Vorarbeiten für die grossen Tunnelbohrmaschinen, die ab dem Herbst in Göschenen und Airolo zusammengebaut und dann im nächsten Jahr zum Einsatz kommen werden, um sich 2027 irgendwo tief im Berg zu treffen. Während es heute in den Zugangsstollen jeden Tag etwa ein bis drei Meter tiefer in den Berg geht, werden es ab nächstem Herbst rund vierzig Meter sein – je nachdem, welche geologischen Gegebenheiten angetroffen werden.
Die Geologie des Gotthards, dieses mythischen Bergmassivs der Schweiz, ist bestens bekannt – Granit, Gneis und Permokarbon werden die Mineure unter anderem auf ihrem Weg durch den Berg antreffen. Und auch zwei Störzonen, also Verwerfungen im Berg, wo das Gesteinsmaterial sehr locker sein kann. An diesen Stellen stossen auch moderne Tunnelbohrmaschinen an ihre Grenzen. Deshalb werden dafür separate Zugangsstollen gebaut, von wo aus diese Störzonen konventionell herausgebrochen werden. «Es ist sicher ein Vorteil, dass wir die Bedingungen hier sehr gut kennen», sagt Jacopo Cheda, der Projektleiter Nord vom Bundesamt für Strassen (Astra). Kein Wunder, denn nebst diversen militärisch genutzten Stollen und Bunkern – psst! – gibt es ja auch schon einige Tunnel in diesem Massiv, das über Jahrhunderte als nur schwer passierbar galt. Der beschwerliche Weg über die Alpen gestaltete sich erst mit der Postkutsche Mitte des 19. Jahrhunderts etwas angenehmer und verkürzte sich grundlegend mit dem Eisenbahntunnel von 1882. Mit dem Strassentunnel von 1980 und den zwei Röhren des Gotthardbasistunnels von 2016 rückten Nord und Süd noch näher zusammen. Und nun also ein weiteres Generationenprojekt am Gotthard.
Im Abstand von etwa siebzig Metern wird parallel zum bestehenden Strassentunnel eine zweite Röhre gebaut. Dies wurde nötig, weil der bisherige Tunnel nach über vierzig Jahren grossen Sanierungsbedarf aufweist und für diese Arbeiten eine mehrjährige Vollsperrung zwingend sein wird. Deshalb hat das Schweizer Stimmvolk 2016 dem Bau der zweiten Röhre zugestimmt. Ist die zweite Röhre einmal in Betrieb, kann die erste saniert werden. Danach wird in den Tunnels nur noch in eine Richtung gefahren – in der einen in den Süden, in der anderen in den Norden, was die Sicherheit im Tunnel stark verbessert und auch der TCS unterstützt. Die Kapazität der Alpentransversale wird jedoch nicht erhöht, da in jede Richtung nur eine Spur befahren werden kann.
Sowohl in Airolo wie auch in Göschenen wird derzeit die Grundlage gelegt, dass die Tunnelbohrmaschine im Herbst zusammengebaut werden kann. Hierfür wurden sowohl beim Süd- wie auch beim Nordportal sogenannte Voreinschnitte gemacht: senkrechte Löcher von gewaltigem Ausmass, damit die Tunnelbohrmaschinen mit ihren Dimensionen von über 150 Metern Länge und einem Durchmesser von 12,3 Metern zusammengesetzt und dann für den Start positioniert werden können. Derzeit machen den Arbeitern und Mineuren vor allem zwei Herausforderungen zu schaffen. «Wir kämpfen zum einen gerade mit Abplatzungen und zum anderen mit einer Zone, wo es viel Schüttmaterial noch aus der Zeit des ersten Eisenbahntunnels gibt. Da liegen viel lockeres Gestein und zum Teil grosse Brocken», erklärt der Sicherheitsbeauftragte Charly Simmen. Unter Abplatzungen wird das Phänomen verstanden, wenn sich – etwa durch Sprengungen – Druck im Gestein löst, dieser sich dann unvermittelt löst und ganze Felsplatten in den Tunnelinnenraum in Richtung Mineure geschleudert werden. «Dieses Phänomen ist nicht absehbar und jedes Mal eine Überraschung», erklärt Simmen. Deshalb ist es wichtig, dass nach einer Sprengung die Abbruchstelle gleich wieder mit Spritzbeton und Ankern im Fels gesichert wird. Dann erst wird das Material abtransportiert und die Wand wieder für weitere Sprengungen vorbereitet.
Ein Bauwerk dieser Grössenordnung hat auch grossen Einfluss auf die Umwelt. Insgesamt wird so zum Beispiel Gestein mit einem Gewicht von rund 7,4 Millionen Tonnen ausgebrochen, ein unglaubliches Gewicht, das ungefähr eine Million Tonnen mehr beträgt, als die Cheops-Pyramide in Ägypten schwer ist. Umso erstaunlicher, dass fast das ganze Material wiederverwendet wird. Dafür wurde etwa fünfzig Meter im Berg eine Betonkaverne geschaffen, wo gleich vor Ort qualitativ gleichmässiger Beton für die Baustelle hergestellt wird. Auch für die Geländemodellierung und die Überdeckung in Airolo wird Ausbruchmaterial verwendet. Der grösste Teil des Gesteins, rund 3,5 Millionen Tonnen, wird bei der Renaturierung der Flachwasserzone im Urnersee eingesetzt werden. Davor aber werden sich die Tunnelbohrmaschinen durch den Berg fräsen, damit ab 2030 die zweite Röhre als Nord-Süd-Verbindung genutzt und der erste Strassentunnel saniert werden kann.
«Einmal Tunnel, immer Tunnel», sagt Johann Riesslegger. Der gebürtige Österreicher arbeitet als Polier auf der Gotthardbaustelle in Göschenen. Er hat schon in verschiedenen Schweizer Tunnels gearbeitet, beim Entwässerungsstollen in Brienz nach dem Bergrutsch oder auch an der Grimselstaumauer. Und nun also noch ein Jahr im Gotthard, bevor es in den verdienten Ruhestand geht. «Eigentlich arbeite ich ja lieber auf kleineren Baustellen, weil es da familiärer zu und her geht. Aber so ein Mammutprojekt hat schon seinen Reiz», sagt er. Ursprünglich sei er wegen des Geldes in den Tunnelbau gegangen, heute sei es seine Leidenschaft. Die Geologie des Felses fasziniert ihn und auch das Arbeiten im Wissen, dass sich über einem ein ganzes Bergmassiv befindet. Im Gotthard sei vor allem die Logistik eine Herausforderung, erklärt Riesslegger. «Da einige Parteien vor Ort sind und sich Geräte geteilt werden, braucht es viele Absprachen und im Tunnel auch lange Wege, die zu Fuss zurückgelegt werden müssen. Hinzu kommt die mentale Belastung, ganze Arbeitstage unter Tage zu verbringen.»
Text: Dino Nodari
Fotos: Emanuel Freudiger
Zeitplan
2016
Eidgenössische Volksabstimmung
2017
Genehmigung Projekt durch Bundesrat
2021
Spatenstich
2022
Beginn Vortrieb Zugangsstollen Nord und Süd
2025
Beginn Vortrieb Haupttunnel
2027
Durchschlag Haupttunnel
2028
Beginn Einbau Betriebs- und
Sicherheitsausrüstung
2030
Eröffnung zweite Röhre
Die längsten Autotunnels der Welt
1 Lærdal
24,51 Kilometer
Norwegen
Der spektakuläre Lærdal-Tunnel ist der längste Strassentunnel der Welt. Er wurde im Jahr 2000 fertiggestellt und verbindet die Städte Oslo und Bergen. Die kurvige Streckenführung soll gegen Ermüdung helfen.
2 Yamate
18,2 Kilometer
Japan
Der längste Strassentunnel in städtischem Gebiet ist der Yamate-Tunnel in Tokio. Der mit 18,2 Kilometern zweitlängste Autotunnel der Welt wurde in Etappen gebaut und 2015 fertiggestellt.
3 Zhongnanshan
18,04 Kilometer
China
Der drittlängste Strassentunnel ist der Zhongnanshan-Tunnel in China in der zentralchinesischen Provinz Shaanxi. Der Tunnel unterquert das Qin-Ling-Gebirge. Die zwei Röhren des Tunnels wurden 2007, zwei Jahre früher als geplant, eröffnet. Baukosten: 330 Millionen Euro.
4 Jinpingshan
17,54 Kilometer
China
Der Jinpingshan-Tunnel liegt in der chinesischen Provinz Sichuan. Der Tunnel führt direkt zum Jinping-Staudamm, dem höchsten Staudamm der Welt. Er ist jedoch nicht öffentlich zugänglich.
5 St. Gotthard
16,94 Kilometer
Schweiz
Der Gotthardtunnel, während zwanzig Jahren bis zum Jahr 2000 der längste Strassentunnel der Welt, ist noch heute der wichtigste Korridor durch die Alpen und verbindet die Ortschaften Airolo und Göschenen.
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